Erwachsene wollen auch spielen

Was hinter dem „Kidult“-Trend steckt und warum er bleiben wird

Ein Kommentar von Axel Gundolf

Im Jahr 2020 hat Playmobil ein Lizenzprodukt auf den Markt gebracht, das mein damals bereits über 40 Jahre altes Herz sofort höherschlagen ließ: den DeLorean aus der 80er Jahre Film-Trilogie „Zurück in die Zukunft“. Diese Kultfilme waren ein essenzieller Teil meiner Kindheit, und ich hätte damals das Taschengeld eines gesamten Jahres ausgegeben, um so ein Spielzeug zu besitzen. Und Playmobil hat das wirklich perfekt umgesetzt – mit den echten Flügeltüren und sogar mit den Rädern, die man nach unten umklappen kann, damit das Auto fliegt. Ich war begeistert.

Aber sollte ich mir wirklich als Erwachsener ein Playmobil-Set kaufen? Was würde ich überhaupt damit anfangen? Es einfach in den Schrank stellen, anschauen und rührselig an die Vergangenheit denken? Oder meine Kinder damit spielen lassen, die aber ja gar nicht nachfühlen könnten, warum Papa immer so ehrfürchtig „Flux-Kompensator“ sagt und aus dem Nichts wie ein verrückter Wissenschaftler „Eins Punkt 21 Gigawatt“ ruft?

Big Business mit Kidults

Inzwischen habe ich gelernt, dass ich mit meinen Gedanken über vermeintlichen Kinderkram für Erwachsene nicht allein bin. Ich bin damit Teil einer Zielgruppe, für die sogar ein eigener Begriff erfunden wurde: die „Kidults“. Die Bezeichnung entstand in den USA bereits in den 1950er Jahren, aber erst in letzter Zeit hat dieses Phänomen einen regelrechten Boom erfahren.

Laut einer Studie der Marktforscher von Circana erwirtschafteten Unternehmen mit Erwachsenenspielzeug in Europa 2022 bemerkenswerte 4,6 Milliarden Euro. Während das Business mit Kindern nach der Corona-Krise stagniert, wächst das Erwachsenensegment ordentlich weiter.

Strategisch eröffnen sich so ungeahnte Möglichkeiten. Von den etwa 84 Millionen Menschen in Deutschland sind weniger als 15% Kinder unter 14 Jahren. Da steckt natürlich ein enormes Potenzial in der Idee, mit Spielwaren auf einmal auch die anderen 85% erreichen zu können.

Kidult-Treiber: Sammelleidenschaft und Nostalgie

Inhaltlich funktioniert das besonders gut mit allem, was man sammeln kann, seien es Karten oder Action-Figuren. Mit diesen „Collectibles“ wird unser Ur-Trieb nach Jagen und Sammeln offenbar bestens befriedigt. Der ganze Gaming-Bereich ist ohnehin schon lange ein riesiges Geschäft, aber auch der klassische Spielabend mit Brettspielen ist offenbar nicht tot zu kriegen. Nostalgie ist ein weiteres Bedürfnis, mit dem sich gut Produkte verkaufen lassen. LEGO hat diesen Ansatz mit hochpreisigen Bausets zu Star Wars, Automobil-Klassikern oder Kult-Fußballstadien perfektioniert. Playmobil hat versucht, mit seinen Produktlinien - etwa zu Zurück in die Zukunft oder Ghostbusters - nachzuziehen. Aber auch im Event-Bereich setzt man inzwischen auf die Kidults, ob bei Rollenspiel-Abenden, Cosplay-Veranstaltungen oder speziellen Öffnungszeiten für „Adults Only“ in Indoor-Spielplätzen und Hochseilgärten.

Warum die Grenze zwischen Kindern und Erwachsenen verschwimmt

Die Hauptcharaktere der Sitcom Big Bang Theory

Wenn man den Kidult-Trend wirklich verstehen will, muss man sich fragen, woher er kommt. In der Analyse lässt sich feststellen, dass aktuell eine Vielzahl von psychologischen, gesellschaftlichen, popkulturellen und auch historischen Phänomenen zusammenlaufen und den Trend befeuern. Die bereits angesprochene Nostalgie zum Beispiel ist ja keine spezielle Erscheinung unserer Zeit, sondern taucht schon seit Jahrhunderten in verschiedenen Ausprägungen auf. Was in den vergangenen 20 Jahren allerdings neu dazugekommen ist, ist eine inhaltliche Fixierung dieser Nostalgie auf Themen der Popkultur: Filme, Bücher, Comics, Fernsehserien. Einhergegangen ist diese Entwicklung mit dem Einzug der Nerds in den Mainstream, idealtypisch versinnbildlicht durch den enormen Erfolg der Sitcom Big Bang Theory mit ihrem Start im Jahr 2007.

Parallel-Welt zum Ausgleich

Parallel dazu hat unsere westliche Welt einen Zustand erreicht, der durch die gleichzeitige Überlappung multipler Krisen gekennzeichnet ist. Finanzen, Klima, Migration, Corona, Ukraine, Energie, Nahost – kaum eins dieser Worte, das man im Kopf nicht automatisch mit dem Wort Krise vervollständigt. Diese Komplexität stellt eine Überforderung für uns dar, auf die viele Menschen mit einem erhöhten Bedürfnis nach Sicherheit, Einfachheit und Geborgenheit reagieren. In der Kinderunterhaltung kennen wir dieses Phänomen schon lange, feststellbar wenn ältere Kinder, die sich der komplexen Zeit der Pubertät nähern, heimlich wieder Animationsserien für Vorschüler konsumieren. Simple Geschichten mit Happy End tun eben einfach gut, wenn die Welt um einen herum ungemütlich wird.

Sind wir nicht alle ein Homo Ludens?

Wenn wir aus unserer Zeit rauszoomen, stellen wir fest, dass der Kidult-Trend historisch betrachtet, gar nicht unbedingt eine Abkehr von der Normalität ist, sondern möglicherweise eher eine Rückkehr zur Normalität. In seinem Hauptwerk Geschichte der Kindheit stellte der französische Historiker Philippe Ariès bereits 1960 fest, dass die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen mit einer jeweils eigenen Gefühlskultur erst im 16. und 17. Jahrhundert entstanden ist. Und erst ab dann wurden auch spielerische Aktivitäten wie Gesellschaftsspiele, Verkleidungen oder das Puppenspiel als kindlich definiert.

Göttliches Spiel

Im Sanskrit gibt es das uralte Wort „Lila“, das “Spiel” bedeutet, aber eine ganz andere Tiefe hat, als das, was wir heute mit Spielen assoziieren. Das göttliche Spiel umfasst dabei nichts weniger als die Erschaffung und Entfaltung unserer gesamten Welt. Und das ist nun alles andere als Kinderkram. In der Anthropologie gibt es dafür auch den Begriff des Homo Ludens, des spielenden Menschen. Nach diesem Modell entwickelt sich der Mensch in erster Linie über das Spiel zu dem, was er ist. Friedrich Schiller wiederum hat es so auf den Punkt gebracht: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Spielend flexibel bleiben

Wir Erwachsene scheinen also lediglich verlernt zu haben, dass Spielen auch für uns eine legitime Beschäftigung ist, vielleicht sogar ein existenzieller Bestandteil unseres Lebens. Wir haben „Play“ durch „Game“ ersetzt. Das heißt: Wir erlauben uns Spielen nur, wenn wir dabei messbare Leistungen bringen wie im Sport, wenn wir dabei etwas lernen wie beim Pubquiz, oder finanziellen Gewinn erzielen können wie im Glücksspiel. Wunderbar dargestellt wird das im Film The LEGO Movie: Während da die Kinder fröhlich bauen, zerstören, neu bauen und sich kreativ austoben wollen, kleben die Eltern Bausteine unverrückbar aufeinander, kreieren eine starre Welt mit festen Regeln und verharren dann darin.

Trennungslinie bröckelt

Übrigens lässt sich der Trend, dass die historisch gewachsene Trennung in Kinder und Erwachsene einreißt, von beiden Seiten betrachten. Nicht nur Erwachsene wollen wieder mehr Kind sein dürfen, auch von Kindern wird immer mehr erwartet, wie Erwachsene zu sein. Wir reden heute anders mit Kindern als noch eine Generation vorher, wir muten ihnen mehr Selbstverantwortung und Entwicklungsfreiheit zu. Wir konfrontieren sie andererseits auch mit mehr Stress, wie die Corona-Pandemie gezeigt hat. Unter anderem darum setzt bei Kindern die Pubertät inzwischen messbar früher ein als noch vor einigen Jahrzehnten.

Mut zur Komplexität

Was mit der hübschen Wortschöpfung Kidult als scheinbar simpler Trend gekennzeichnet wird, entpuppt sich also als durchaus komplexes und vielschichtiges Phänomen. Daher entzieht sich diese Entwicklung auch einer schlichten Bewertung in „gut“ oder „schlecht“.

Aus der Kinderperspektive ist es sicherlich gut, dass wir Kindern heute mehr Respekt als vollständigen Menschen entgegenbringen, als es die Generationen vor uns getan haben. Dennoch brauchen Kinder in jedem Fall Schutzräume, in denen sie einfach Kind sein können. Für Erwachsene ist es andererseits ein Gewinn, wenn sie ihrem natürlichen Drang zum Spielen wieder mehr nachgeben dürfen. Dafür sollte man sich keinesfalls schämen müssen, sondern das Spiel wieder in seiner ursprünglichen Bedeutung als Teil des Lebens betrachten. Aber gleichzeitig kann eine totale Infantilisierung selbstverständlich auch nicht das gesellschaftliche Zielbild sein.

Das Zusammenspiel der Illusion und Desillusion

Der amerikanische Musiker und Autor Stephen Nachmanovitch beschreibt das Spannungsfeld aus Spiel und Wirklichkeit so: „Wir können das Ende der Kindheit nicht vermeiden: Das freie Spiel der Phantasie schafft Illusionen, und Illusionen prallen mit der Wirklichkeit zusammen und werden desillusioniert. Desillusioniert werden ist wahrscheinlich eine gute Sache, das Wesen des Lernens, aber es schmerzt.“ Wer in unserer zunehmend komplexen Welt geschäftliche Entscheidungen treffen will, muss in der Lage sein, sich diesen Widersprüchen zu stellen und dann Komplexität im genau passenden Maß zu reduzieren. In unserer Arbeit als Organisationsberater nutzen wir gerne Prinzipien aus der Improvisation, die genau dafür bestens geeignet sind. Und das Grundprinzip der Improvisation besteht aus einer radikalen Akzeptanz der Realität, kombiniert mit der Fähigkeit, sinnvoll auf dieser Realität aufzubauen.

Wer den Kidult-Trend tiefer versteht, kann ihn besser nutzen

Der Kidult-Trend ist real. Und je besser man ihn versteht, desto besser kann man ihn für sich nutzen. Dieser Text ist ein Versuch, dieses tiefere Verständnis zu ermöglichen. Denn relativ sicher lässt sich prognostizieren, dass dieser Trend fortschreiten wird. Wir haben zum einen gesehen, dass Spielen unseren inneren menschlichen Kern anspricht. Wer Menschen also Spiel ermöglicht, muss gar kein Zielgruppenbedürfnis aufbauen, sondern bedient ein Motiv, das ohnehin bereits existiert. Zum anderen erscheint es unwahrscheinlich, dass sich die wahrgenommene äußere Bedrohung durch die Vielzahl von Krisen kurzfristig in Wohlgefallen auflösen wird. Das Bedürfnis nach Einfachheit und Sicherheit wird demnach ebenfalls weiterhin eine zentrale Rolle für die Kaufentscheidungen der Menschen spielen. Es steckt also noch größeres Potenzial für die Spielwarenbranche in der Erwachsenen-Zielgruppe.

Wie stellt sich ein Spielwarenanbieter zum Kidult-Trend auf?

Drei zentrale Fragen, die jeder Anbieter in diesem Kontext für sich klären muss, sind die nach Zielgruppe, Inhalt und Vermarktung:

  • Betrachte ich Erwachsene als separate Zielgruppe, die ich gesondert anspreche? Oder möchte ich Gelegenheit für gemeinsames Spielen von Kindern und Erwachsenen schaffen? Beide Optionen bergen Chancen und Risiken. Als Vater weiß ich, dass Kinderspiele für Erwachsene oft kein reines Vergnügen sind. Andererseits ist die gesamte Familie als generationenübergreifende Zielgruppe größer und nachhaltiger.

  • Welche Themen sind geeignet, um bei den Kidults erfolgreich zu sein? Nicht jedes Thema, das früher erfolgreich war, eignet sich für Nostalgie. Und nicht jedes Thema aus der Special-Interest-Ecke der Nerds eignet sich für den Mainstream. Auf die richtigen Themen zu setzen, ist eine Kunst.

  • Wie gelingt es mir, dass Erwachsene ihre anerzogene innere Barriere überwinden und wieder mit dem Spielen beginnen? Die Verpackung spielt hier eine größere Rolle, und zwar sowohl physisch in Design und Packaging als auch metaphorisch über die Möglichkeiten von Storytelling und Eventisierung.

Portrait des Autors Axel Gundolf

Übrigens: Den DeLorean von Playmobil habe ich mir bis heute nicht gekauft. Als Zehnjähriger hätte ich den so gerne gehabt, aber als Ausstellungsstück im Schrank ist er mir heute zu nostalgisch. Stattdessen steht prominent auf meinem Schreibtisch ein Legostein, den meine Kinder und ich als Trophäe für unseren Sieg bei der Pyramiden-Rallye im Legoland gewonnen haben. Wahrscheinlich bin ich nicht der einzige Vater, der stolzer auf diese "sportliche" Familienleistung ist als seine eigenen Kinder. Ein Kidult steckt eben in uns allen.

Über den Autor

Axel Gundolf ist Organisationsberater und Trainer beim Elementar-Institut. Dort hilft er nicht nur, Komplexität zu verstehen, sondern auch Antworten auf die ganz konkreten Fragen zu finden und so die richtigen Entscheidungen zu treffen. Mit über 15 Jahren Erfahrung in der Kinder- und Erwachsenenunterhaltung, unter anderem bei Disney, Super RTL und National Geographic, kennt er auch beide Zielgruppen bestens. Mehr Informationen finden Sie hier.

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