
Kind sein im Zeitraffer - Teil 1
Zwischen Elternrealität und Händlerfrust
Von Sibylle Dorndorf
Willkommen im Zeitalter der digitalen Überflieger. Die zum neunten Geburtstag von Papa eine Drohne bekommen, die nicht mal er selbst steuern kann. Die mit acht Monaten intuitiv die elementaren Funktionen eines Handys erfasst haben. Und deren Eltern beim Spielzeugkauf auf alles Mögliche achten, nur nicht auf Altersempfehlungen.
Die Kinder der digitalen Ära

Die Rede ist von Kindern der Gen Alpha (2011 bis 2024) und der Gen Beta (ab 2025). Letztere ist die erste Generation, die vollständig im digitalen Zeitalter aufwächst. Sie wird von klein auf mit KI und Virtual Reality vertraut sein. Gen Alpha wurde mit den Technologien des 21. Jahrhunderts groß. Das Leben dieser Generation wird noch digitaler geprägt sein als das der Digital Natives. Hier beim Spielzeugkauf mit Altersempfehlungen zu kommen, sei, das bestätigen Spielwarenhändler, ein schwieriges Unterfangen.
Kleinkinder dieser Generationen nutzen Apps, schauen YouTube-Videos oder interagieren mit Sprachassistenten. In den Schulen wird über Augmented Reality spielerisch gelernt. Technik, die bei den Baby Boomern erst im Erwachsenenalter Einzug hielt, ist für diese Generation normaler Teil ihres Alltags. Wie relevant ist für die Eltern dieser digitalen Überflieger eine Altersempfehlung beim Spielzeugkauf?
Elterliches Wunschdenken trifft auf Realität
Nach wie vor soll spielen in erster Linie Spaß machen. Was die Altersempfehlungen der Hersteller angeht, ist nach Elternsicht Luft nach oben. Die Dreijährige bekommt ein kniffliges 3D-Puzzle, der Fünfjährige wird mit einem anspruchsvollen Computerspiel beschenkt. Er ist schon sehr weit für sein Alter – eine Aussage, die Spielwarenhändler auf die Palme bringt: „Eltern achten heutzutage auf alles Mögliche, aber nicht auf Altersangaben beim Spielzeugkauf“, weiß Klaus Müller, Inhaber des seit fast 130 Jahren bestehenden Nürnberger Traditionsgeschäftes Spielwaren Schweiger, das er mit seiner Frau in vierter Generation führt. „Großeltern kaufen nach ‚Bestellung', Eltern achten nur bei Kleinkindern in den ersten Lebensmonaten noch darauf, dass Spielzeug altersgerecht ist. Für den Sechsjährigen muss es dann schon ein Heli sein, der beim ersten Probeflug abstürzt.“ Ein kurzes Spielvergnügen.
Überforderung führt zur Frustration

„Frustration herrscht dann nicht nur auf Seiten des Kindes“, so Müller weiter. „Eltern und Großeltern sind enttäuscht, erkennen aber nicht, dass zu anspruchsvolles Spielzeug Kindern nicht zu einem Entwicklungssprung verhilft, sondern zu Desinteresse und Ablehnung führt. Und am Ende der Nahrungskette stehen wir Händler. Wir bekommen das kaputte Teil ‚nach Gebrauch’ als Umtausch oder Rücknahme.“ Sich hier auf Diskussionen einzulassen, bringe nichts. Der Kunde ist König. Nachgerade im gebeutelten stationären Fachhandel. Was passiert mit diesen Rücknahmen? Werden sie repariert? Abgeschrieben? „Wir werfen pro Jahr Ware im Wert von zirka 2.000 bis 3.000 Euro weg. „Klaus Müller hat wie viele seiner Handelskolleginnen und -kollegen resigniert. Drohnen und Hubschrauber sind in seinem Geschäft schon lange ausgelistet. Lediglich beim Kauf von Experimentierkästen würden Eltern noch auf Altersangaben achten, so Müller. Bei Lego Technic sei das dann schon wieder vorbei. Da werde regelmäßig „überzogen", was die Altersempfehlung des Herstellers angeht. „Da muss Papa dann Hand anlegen."
Diese Erfahrung aus dem Händleralltag ist kein Einzelfall. Ein Blick in einen Elternblog zeigt, dass Altersangaben weitestgehend ignoriert werden.
Auf Stimmenfang im Elternblog
Moderndaddy: Ich sehe Altersangaben als ungefähre Empfehlung, an die wir uns meistens nicht halten. Solang das Spielzeug nicht gefährlich ist schaue ich, wofür meine Tochter (acht Monate) sich interessiert. Zu Weihnachten hat sie ein Buch bekommen das ab 12 Monate ist. Wir lesen es mehrmals am Tag durch. Es ist ein Mitmach-Buch, man wird aufgefordert bestimmte Dinge zu tun. Das kann sie noch nicht, aber es interessiert sie.
Zuckermom: Viel wichtiger als die Altersangaben finde ich darauf zu achten, für was sich mein Kindinteressiert. Wir hatten einige Spielzeuge für das passende Alter, die unser Kind nicht angerührt hat. Wiederum waren dann Spiele für ältere Kinder total der Hit.
Re007: Benutz lieber deinen Verstand, als dich auf solche Angaben zu verlassen. Alles, was für dein Kind nicht zu gefährlich oder zu schwierig ist, kann es benutzen. Meine Tochter spielt seit sie zehn Monate alt ist mit einer Murmelbahn, die ab zwei oder drei Jahren ist.
Das verwünschte Wunschdenken

Noch kauft die Gen Alpha überwiegend nicht selbst ein. Ihre Millennial-Eltern bestellen Spielzeug über Facebook, Instagram oder TikTok und betreten damit einen beratungsfernen Raum. Ihren Kindern wird kaum ein Wunsch abgeschlagen. Bei Spielzeugwünschen beraten nicht Fachhändler, sondern die Lieblings-YouTube- oder Instagram-Stars. Ein Viertel der Kids orientieren ihre Wünsche an den Vorschlägen von Influencern aus ihrer Altersgruppe wie Ryan Kaji. Der Zehnjährige testet und bewertet Spielzeug auf YouTube und hat auf seinem Kanal knapp 32 Millionen Abonnenten. Seine Filme wurden bisher insgesamt knapp 50 Milliarden Mal gestreamt.
Eine echte Herausforderung nicht nur für den Fachhandel, sondern auch für den Arbeitsausschuss Kinderspiel + Spielzeug e.V., der Eltern auch hinsichtlich altersgerechten Spielzeugs berät. Zum Thema äußert sich Vorstandsmitglied Ingetraud Palm-Walter.
Nachgefragt
Frau Palm-Walter, wie werden Altersangaben von den Unternehmen ermittelt?

Ingetraud Palm-Walter: Die Unternehmen orientieren sich in erster Linie an den Vorgaben der Spielzeugrichtlinie. Diese gibt vor, was als Spielzeug eingestuft wird und welches Spielzeug welche Sicherheitsanforderungen in welchem Alter erfüllen muss. Sie schreibt auch vor, welche Warnhinweise angebracht werden müssen. Manche Hersteller geben ein bestimmtes Alter an, weil dann kein Warnhinweis platziert werden muss. Wenn Unternehmen ein Produkt als Geschenk zur Geburt anbieten möchten, geben sie gern 0 Jahre an, obwohl ein Kind erst später damit spielen kann. Das führt zu Irritationen.
Werden diese Angaben überprüft oder ist jedes Unternehmen frei, Altersangaben zu treffen?
Ingetraud Palm-Walter: Die Sicherheitsvorschriften müssen eingehalten werden, darüber hinaus entscheiden die Unternehmen frei. Manche beginnen jetzt ihre Altersangaben einzuteilen in ‚Altersfreigabe‘ – nach der Sicherheitsnorm – und ‚Altersempfehlung‘ – in welchem Alter Kinder damit spielen können. Sie begründen das damit, dass durch die frühe Altersfreigabe die Eltern sehen, wie sicher das Spielzeug ist. Das führt zu unterschiedlichen Angaben auf der Verpackung und im Shop der Hersteller – und zur Verwirrung der Eltern.
Es gibt für Spielwaren je nach Altersangabe unterschiedliche Sicherheitsanforderungen. Zumindest in diesem Bereich müsste doch eine Kontrolle stattfinden?
Ingetraud Palm-Walter: Die Kontrolle findet auch statt über die Gewerbeaufsicht. Auf Spielzeug ist das CE Zeichen Vorschrift und dies besagt, dass die Sicherheitsvorschriften eingehalten sind. Falls dies nicht stimmt und etwas passiert, haftet der Hersteller.

Kinder reifen immer früher, werden Spiele- oder Spielwarenklassikern mit den Jahren angepasst?
Ingetraud Palm-Walter: Ja, allerdings haben wir oft das Gefühl, dass es eher um den Markt geht als um die Kinder. So versuchen zum Beispiel Hersteller von Systemspielzeug das Einstiegsalter möglichst niedrig zu halten, damit der Konkurrent nicht bevorzugt wird. Es werden besondere ‚Einstiegskästen‘ für jüngere Kinder angeboten. Dabei kommt aber oft ein von uns sogenannter "Altersbruch" zustande. Ein Beispiel: Auf einem Zug sind auf den Waggons Zahlen von 1-10 aufgedruckt. Der Zug ist dabei von der Gestaltung her für Kleinkinder, die Zahlen aber erst ab Vorschulalter sinnvoll.
In welchem Alter des Kindes sollte man unbedingt auf Altersangaben achten?
Ingetraud Palm-Walter: Auf jeden Fall bei Spielzeug für Babys und unter Dreijährige wegen verschluckbarer Kleinteile und anderer Sicherheitsaspekte. Aber auch bei Gesellschaftsspielen, Konstruktionsmaterial und Experimentierkästen. Wenn diese Produkte zu früh gegeben werden, können Kinder so frustriert sein, dass sie diese Art von Spielzeug nie wieder anfassen.
In vielen Spielwarenkatalogen oder auch im Handel wird nach Altersangaben „sortiert“. Halten Sie das für sinnvoll?
Ingetraud Palm-Walter: Im Prinzip ist eine Vergleichsmöglichkeit immer gut. Allerdings müssen dann die Altersangaben auch zutreffend sein. Wir haben in unserem Buch "Vom Spielzeug und vom Spielen" Tabellen mit Beispielen "Welches Spielzeug in welchem Alter" und somit eine Übersicht.
1954 wurde der Arbeitsausschuss Kinderspiel + Spielzeug e.V. von Praktikern und Wissenschaftlern aus Medizin, Naturwissenschaft, Psychologie, Pädagogik, Kunst und Architektur gegründet. Heute ist das spiel gut Siegel eine der wichtigsten Auszeichnungen für gutes und pädagogisch wertvolles Spielzeug in Deutschland. Mit dem orangefarbenen spiel gut Siegel zeichnet der Arbeitsausschuss Spielzeuge aus, die seine Begutachtungskriterien erfüllen und den Praxistest mit Kindern bestehen. Jedes Jahr werden circa 600 neue Produkte geprüft. Die Begutachtung ist für die Hersteller kostenlos
Über die Autorin
Sibylle Dorndorf schreibt seit fast 30 Jahren über die Spielwarenbranche, zuletzt war die Journalistin Chefredakteurin der TOYS-Magazinfamilie im Göller Verlag, Baden-Baden. Ihre Passion: Unternehmen, die sich neu erfinden, Marken, die sich glaubwürdig positionieren, Menschen, die etwas zu sagen haben und Produkte mit Zukunft.


