70 Jahre spiel gut – Vision und Wirklichkeit
Die Welt im Kinderzimmer: Spielzeug spiegelt die Lebenswirklichkeit von Kindern
Von Sibylle Dorndorf
Der Countdown läuft – nur noch wenige Wochen, dann ist Weihnachten. Die Wunschzettel sind geschrieben. Eltern, Paten und Großeltern befinden sich auf der alljährlichen Geschenke-Suche. Und jeder will eigentlich nur eins: Gutes Spielzeug verschenken. Bei der Suche danach werden sie sicherlich über das runde, orangefarbene Siegel mit dem Aufdruck „spiel gut“ stolpern. Dieses Siegel ist eine der wichtigsten und renommiertesten Auszeichnungen für gutes und pädagogisch wertvolles Spielzeug in Deutschland – und das seit 70 Jahren.
Orientierung für Verbraucher
Nie war das Siegel wertvoller als heute, denn Spielzeug wird in Zeiten des E-Commerce nicht mehr nur im Fachhandel gekauft. Schenkende, die auf Online-Marktplätzen Spielzeug erwerben, gehen unter Umständen ein hohes Risiko ein. 95 Prozent der in einem Testkauf auf Temu erworbenen Spielzeuge verstoßen gegen EU-Sicherheitsvorschriften und stellen eine ernsthafte Gefahr für Kinder dar. Das teilt der europäische Spielwarenverband Toy Industries of Europe mit, der im Rahmen eines Testkaufs 19 Spielzeuge auf dem Online-Marktplatz erwarb und testen ließ. Kein einziges der Spielzeuge entsprach den EU-Vorschriften, 18 von ihnen stellten ein ernsthaftes Sicherheitsrisiko für Kinder dar. Verbraucherschützer warnen seit langem vor den Billiganbietern, ebenso der Deutsche Verband der Spielwarenindustrie e.V. DVSI-Geschäftsführer Ulrich Brobeil: „Das Problem ist zwar mittlerweile erkannt worden, aber Lösungen stehen noch aus.“ Die Gesetzgebung handelt zögerlich, die Käufer von Spielwaren sind verunsichert.
Was ist eigentlich gutes Spielzeug?
Auch wer den Weg in den Fachhandel findet, ist erst einmal vom Angebot an Spielwaren überwältigt und stellt sich die Frage: Was ist eigentlich gutes Spielzeug? Der Arbeitsausschuss Kinderspiel und Spielzeug e.V., in Persona das spiel gut Gründungsmitglied, die Entwicklungspsychologin Hildegard Hetzer, gibt darauf eine klare Antwort: Spielen ist die dem Kind gemäße Form zu handeln. Die Rolle von gutem Spielzeug erklärt sich damit von selbst. Die herausragenden Merkmale: Ein kindgerechtes Design, hochwertiges Material, einfache Formen, klare Farben und ein überzeugendes gestalterisches Gesamtkonzept.
Die Entstehung von spiel gut
1954, zwischen Nachkriegszeit und Wirtschaftswunder, wurde der Arbeitsausschuss Kinderspiel und Spielzeug e.V. von Praktikern und Wissenschaftlern aus Medizin, Naturwissenschaft, Psychologie, Pädagogik, Kunst und Architektur gegründet. Die Idee: Aus wissenschaftlicher und künstlerischer Sicht aufzuzeigen, was unter gutem Spielzeug zu verstehen ist. Der Anlass: Eine Ausstellung im Ulmer Museum, die dem Thema „schönes Spielzeug“ gewidmet werden sollte. Aber schon während der Planung wurde klar, dass wertvolles, gemeint ist „gutes“ Spielzeug, nicht nur schön und hochwertig sein sollte, sondern noch viele weitere Aspekte einfließen müssen.
In einer Arbeitsgemeinschaft der Ulmer Volkshochschule um Roderich Graf Thun, einem ehemaligen Spielzeugfabrikanten, wurden Eltern und Pädagogen zu diesem Thema befragt. Auch Dozenten und Studenten von der Hochschule für Gestaltung in Ulm wurden gehört. Schließlich war die Idee geboren – eine kritische und unabhängige Auseinandersetzung zum Thema Spielzeug.
Spielzeug im Wandel der Zeit
70 Jahre sind eine lange Zeit. In den Spielzimmern sieht es heute völlig anders aus als in den 50er Jahren. Die Lebenswirklichkeit der Kinder hat sich verändert und damit einhergehend auch ihre Vorlieben und Spielwelten. Mag der leise Vorwurf, die Industrie gebe ja vor, was gespielt wird, überzogen klingen – in Zeiten digitaler und medialer Orientierung von Kindern spielen zugkräftiges und zielgruppenadäquates Marketing sowie die gekonnte Inszenierung von Markenwelten eine entscheidende Rolle. Begehrlichkeiten werden geweckt, die Medienhelden der Kinder sind Identifikationsfiguren auch im Spiel-Alltag.
Dazu kommt, dass die geltenden Sicherheitsnormen sich oft als spieleinschränkend auswirken, ein Aspekt, den der Arbeitsausschuss bei der Beurteilung eines Produktes im Auge behalten muss, obschon gerade er sehr klare und unverhandelbare Anforderungen an sicheres Spielzeug stellt. Auch herrschende – und häufig wechselnde – Trends spielen eine Rolle beispielsweise bei der Farbgebung von Spielwaren. Die aktuell differenzierte Farbigkeit von Spielwaren ist dem Zeitgeist geschuldet.
Kriterien für gutes Spielzeug
Neueren Studien zufolge spielen Kinder mehr als 10 000 Stunden. Während der ersten beiden Jahre bis zu sechs Stunden täglich, danach bis zu vier Stunden täglich – wenn wir sie lassen. Kinderspiel ist eine ernst zu nehmende, für jedes Kind lebensnotwendige Sache. Das ist dem Arbeitsausschuss Kinderspiel und Spielzeug bewusst. Danach handeln die Mitglieder.
12 Kriterien bilden bis heute das Grundgerüst für die spiel gut Beurteilung von Spielwaren:
- Ist das Spielzeug für die empfohlene Altersgruppe geeignet?
- Fördert das Spielzeug Fantasie und Vorstellungsvermögen?
- Knüpft das Spielzeug an altersgerechte Lebenserfahrungen an?
- Bietet das Spielzeug vielfältige und fortwährende Spielmöglichkeiten?
- Wie präsentieren sich Gestaltung, Farbe und Form des Spielzeugs?
- Ist das Spielzeug zu klein, zu groß, zu leicht oder zu schwer?
- Sind die Anzahl und die Menge passend?
- Wie ist das Spielzeug im Hinblick auf seine Mechanik konstruiert?
- Entsprechen die Haltbarkeit und Lebensdauer dem Spielzweck?
- Ist das Spielzeug sicher?
- Ist das Spielzeug nachhaltig?
- Der Preis des Spielzeugs wird bei der Beurteilung nicht berücksichtigt.
Was wird ausgezeichnet?
Begutachtet werden Spielzeuge und Spiele für Kinder im Alter von 0 bis 14 Jahren: von der Babyrassel bis zum Experimentierkasten, Spielsachen für drinnen und draußen. Mit dem spiel gut Siegel werden Produkte ausgezeichnet, die die oben genannten Kriterien erfüllen und die Praxiserprobung mit Kindern bestehen.
Der Leitfaden für die Mitglieder des Arbeitsausschusses ist klar umrissen: Gutes Spielzeug unterstützt die Entwicklung von Kindern, indem es ihre Fantasie anregt, anstatt einzuengen, Erwartungen nicht enttäuscht und vielfältige wie fortwährende Spielmöglichkeiten bietet. Und natürlich ist gutes Spielzeug umweltverträglich, sicher und entspricht in seiner Haltbarkeit und Lebensdauer dem Spielzweck.
Was ist ausgezeichnet?
Die spiel gut Datenbank ist ein hervorragender Leitfaden für Eltern, Erzieher, Pädagogen und all jene, die auf der Suche nach gutem Spielzeug sind. Auf ihr befinden sich über viertausend ausgezeichnete Spielwaren. Die Datenbank wird monatlich aktualisiert. Um Interessierten die Suche zu erleichtern, sind die Spielzeuge nach Kategorie und Unterkategorie sortiert. Die Suchfunktion kann nach Stichwort, Alter oder Preis gefiltert werden.
70 Jahre Engagement für gutes Spielzeug
Der technische und ästhetische Wandel beim Spielzeugdesign aber auch die veränderten Spielgewohnheiten der Kinder fließen in die Beurteilungsarbeit des Arbeitsausschusses mit ein.
Dies erfordert von jedem einzelnen spiel gut Mitglied eine zeitgemäße Differenzierung der Auswahlkriterien. Ihrem Engagement ist es zu verdanken, dass das spiel gut Siegel heute eine der wichtigsten und renommiertesten Auszeichnungen für gutes und pädagogisch wertvolles Spielzeug in Deutschland ist.
Die Idee von spiel gut
- Verbraucherberatung für Spiele und Spielsachen: Informiert alle, die an gutem Spielzeug interessiert sind – unabhängig von Spielzeugindustrie und Handel.
- Ehrenamtliches Engagement von Fachleuten: Die meisten der Experten sind selbst Eltern, alle leisten Ihr Engagement ehrenamtlich.
- Entscheidungshilfe für gutes Spielzeug: Das orangefarbene spiel gut Siegel zeichnet Spielsachen aus, die die spiel gut Begutachtungskriterien erfüllen und den Praxistest mit Kindern bestehen.
- Gemeinnützig und unabhängig: spiel gut ist ein gemeinnütziger Verein und finanziert sich durch den Verkauf der spiel gut Ratgeber sowie der Schutzgebühr für das spiel gut Siegel. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fördert die Arbeit.
Mehr zu spiel gut gibt es hier
Über die Autorin
Sibylle Dorndorf schreibt seit fast 30 Jahren über die Spielwarenbranche, zuletzt war die Journalistin Chefredakteurin der TOYS-Magazinfamilie im Göller Verlag, Baden-Baden. Ihre Passion: Unternehmen, die sich neu erfinden, Marken, die sich glaubwürdig positionieren, Menschen, die etwas zu sagen haben und Produkte mit Zukunft.